Die Esskultur in Deutschland hat einen radikalen Wandel durchgemacht. Vor rund zwei Jahrzehnten dominierten feste Mahlzeiten, strikte Rituale und gemeinschaftliche Normen die Tischsitten, wo heute Flexibilität und individuelle Vorlieben überhandnehmen. Dies zeigt die neue Studie von der Heinz Lohmann Stiftung mit dem Titel „Essen in Deutschland: Wünsche und Wirklichkeit – Gestern. Heute. Zukunft“, die der F.A.Z. vorliegt. In Zusammenarbeit mit dem Marktforschungsinstitut Rheingold Salon und unter Berücksichtigung vorheriger Arbeiten von Volker Pudel wurde das Essverhalten von 2006 mit dem heutigen verglichen. Die Heinz Lohmann Stiftung ist eine gemeinnützige Organisation, die zur PHW-Gruppe gehört, dem größten Hersteller von Geflügelfleisch in Deutschland.
Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist, dass die klassischen Essstrukturen stark im Abnehmen sind. Während früher feste Regeln beim Essen einen klaren Rahmen gaben, hat das gemeinsame Abendessen heutzutage an Bedeutung verloren. Laut der Studie schätzen 81 Prozent der Befragten zumindest eine Mahlzeit täglich mit ihren Angehörigen oder Partnern, dennoch wird das traditionelle Abendbrot immer seltener. Flexible Arbeitszeiten, sprunghafte Veränderungen durch steigende Singlehaushalte und ein breiteres Angebot von Lebensmitteln führen dazu, dass feste Essenszeiten immer mehr aufgegeben werden. Stattdessen konsumieren viele Menschen nach ihrem individuellem Rhythmus oder snacken spontan, insbesondere durch die zunehmende Verbreitung von „Convenience“-Produkten.
Die Individualisierung prägt unser Essverhalten
Die Studie identifiziert Individualisierung und Diversität als die Hauptfaktoren dieses Wandels. Einst bestimmten kulinarische Traditionen und Rituale die Ernährung, heute haben Einflussfaktoren wie Flexitarismus, Veganer stehen, Low Carb oder Protein-reduzierte Diäten an Bedeutung gewonnen. Dies führt dazu, dass Restaurants nun zunehmend ihre Gerichte an spezielle Vorlieben der Gäste anpassen. Das, was Jens Lönneker als „paradiesische Vollversorgung“ beschreibt, ist in unser Leben eingezogen: eine unendliche Produktvielfalt, international angehauchte Küche und ein beinahe grenzenloser Zugang zu Nahrungsmitteln.
Herausforderungen der Fülle
Mit diesem Überfluss treten jedoch auch steigende Herausforderungen auf: Übergewicht, der Verlust von traditionellen Essgewohnheiten und ein wachsender Druck gesellschaftlich akzeptabel zu essen zeichnen sich ab. Der Begriff „Mind-Delight-Dilemma“ beschreibt diese Komplexität – einerseits erhöht die Vielzahl an Auswahlmöglichkeiten den Essensgenuss, zugleich lastet der Druck, sich gesund zu ernähren. Immer mehr Menschen achten beim Kauf von Lebensmitteln auf Inhaltsstoffe, die sowohl Körper als auch Geist positiv beeinflussen sollen. Die Studie zeigt, dass 75 Prozent der Befragten Wert darauflegen, leistungssteigernde Inhaltsstoffe in ihren Lebensmitteln zu finden, und 64 Prozent wollen Produkte, die ihrer körperlichen Performance zugute kommen. Zunehmend sehen viele ihren Körper als Projekt und Ernährung als Instrument zur Selbstverbesserung.
Diese Denkweise zeigt sich in aktuellen Gesundheitsideologien wie „Body Shaping“ oder „Longevity“, bei denen Essen nicht mehr nur der Nahrungsaufnahme oder dem Genuss dient, sondern als Mittel angesehen wird, ein gesundes und aktives Leben zu verlängern. Eine wachsende Anzahl von Menschen versucht, ihre Alterserscheinungen durch gezielte Ernährung und Lebensstilanpassungen hinauszuzögern oder sogar umzukehren. Daher vermeiden sie potenziell gesundheitsschädliche Dinge wie Alkohol, Zucker und übermäßigen Fleischkonsum. Fitness, gesunde Ernährung und ausreichender Schlaf stehen im Mittelpunkt der Bestrebungen, den Alterungsprozess zu verlangsamen, während Genusskomponenten oft in den Hintergrund rücken.
Veganismus und Trends in den sozialen Medien
Mittlerweile sind Nahrungsergänzungsmittel, Proteinshakes und Vitamintabletten für viele Menschen alltäglich. Bestseller-Bücher wie „How not to die“ oder Netflix-Formate wie „Don’t die“ setzen neue Ernährungstrends. Die sozialen Medien, vor allem Instagram, dienen als Plattform für Ernährungsthemen und strahlen meist eine positive Stimmung aus. In der Studie wird hervorgehoben, dass es ein auffälliges Interesse an eiweißreichen Produkten und Alternativen zu Fleisch gibt, obwohl vergleichsweise wenige tatsächlich vegan leben.
Mit der erhöhten Vielfalt an Optionen wächst allerdings auch die Unsicherheit über die richtige Ernährungsweise. Ständig verbreitete neue Trends, mangelnde Klarheit der Informationen und sich widersprechende Ideale bringen viele Nutzer in ein Dilemma. Viele kennen das Gefühl des „ständigen Versagens“, was bedeutet, dass, was heute als gesund gilt, morgen schon wieder veraltet sein kann. Die Probanden geben oft Politik, Elternhauses, Firmen oder auch der Wissenschaft die Schuld, wenn sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden.
Essen als Begegnung zwischen Idealen und Genuss
Daher sind viele Verbraucher gefordert, zwischen ihren Idealen und dem Genuss zu lavieren. Jens Lönneker bringt den Flexitarier ins Gespräch, der bewusster gelegentlich Fleisch konsumiert, um sowohl gesellig bleiben zu können, als auch kritisch dem eigenen Essverhalten gegenüber zu bleiben. Auch Produkte, die oft mehr als keinen unmittelbaren Bezug zur eigenen Ernährung haben, sondern äußerlich als Demonstration der Idealvorstellungen, wie Vitamine aufgenommen werden könnte, treten stark in den Vordergrund – deshalb greifen viele immer noch zu aromatisiertem Wasser. Laut der Studie scheint das Prinzip des „Control and Cheat“ Alltag vieler Menschen zu sein: Während der Woche wird bewusst ausgewählt, am Wochenende kann man sich „sündigen“.“}
Zusammenfassend lassen sich aus der Studie drei zentrale Herausforderungen für die Zukunft ableiten. Erstens das „Beharrungsproblem“, welches beschreibt, wie tief verwurzelt Essen und Trinken in unserer kulturellen und individuellen Identität ist. Veränderungen stoßen oft auf erheblichen Widerstand. Zweitens das „Lustproblem“, bei dem Vielfalt des Angebots zwar den Genuss fördern könnte, jedoch durch fest.seitige Ernährungsideen kompliziert wird. Drittens das „Turmbau-zu-Babel-Problem“, das auf die Unsicherheiten hinweist, die aus Missverständnissen und ständig wechselnden Ernährungsidealen resultieren.87 Prozent der Befragten suchen nach Sicherheit und Legitimation für ihre Ernährungsweisen – gleichzeitig hoffen viele auf eine größere Lockerheit beim Essen und Trinken.
