Jüngste Enthüllungen über Korruption in der Ukraine sind ein echter Schlag ins Gesicht. Vor allem für die unzähligen Ukrainer, die an der Front kämpfen, für die Familien, die seit Jahren unter dem Druck russischer Angriffe leben, und für all jene, die trotz allem auf ein gerechteres Land gehofft haben. Während in Orten wie Sumy, Charkiw und Saporischja Nachbarn und Freunde aufgrund nächtlicher Drohnenangriffe leiden, wird das moralische Fundament der ukrainischen Regierung in Kiew ernsthaft infrage gestellt.
Die Berichte der New York Times über untergrabene Kontrollmechanismen und die Selbstbedienung in Staatsunternehmen sind mehr als nur ein Skandal – sie sind ein Verrat. Die Gefolgsleute von Präsident Wolodymyr Selenskyj haben sich und ihr Land verraten, ebenso wie sie die Menschen, die für das Überleben ihres Staates kämpfen, im Stich lassen. Wenn Hilfsgelder in einem maroden System verloren gehen, betrifft das nicht nur die Ukraine, sondern ganz Europa. Und da hat insbesondere Deutschland eine wichtige Rolle.
Sicher hat Russland diesen Krieg vor über 45 Monaten begonnen. Doch das rechtfertigt keineswegs das Versagen einer Regierung, die ihre Macht eher dazu nutzt, Verantwortung abzuw大eln und zu verschleiern. Die Regeln wurden zugunsten einer kleinen Klique verändert. Es scheint, als habe man daran gearbeitet, die Antikorruptionsbehörden zu schwächen und Kontrollorgane mit Verwandten zu besetzen oder Reformen unter dem Vorwand des Verteidigungskriegs zu blockieren. Hunderte Millionen Dollar flossen unkontrolliert in ein bodenloses Loch – und das inmitten eines Krieges, finanziert von westlichen Steuerzahlern.
Die ukrainische Opposition ist mittlerweile unverblümt und spricht offen über Machtmissbrauch, Nepotismus und Verantwortungslosigkeit. Sogar Persönlichkeiten wie Klitschko und Poroschenko lassen kein gutes Wort über die gegenwärtige Situation. In schneller Folge traten die Energieministerin und der mit ihr verbundene Justizminister zurück. Es gibt Erinnerungen an weitere Berater und Sekretäre, die ihre Ämter räumen mussten. Der mächtige Stabschef Andrij Jermak, vor Kurzem ebenfalls ganz außen vor, bleibt stumm, während die Spur des Geldes verloren geht in einem Netz aus Loyalität und Machtspielchen. Ein Präsident, der 2019 mit dem Versprechen der Erneuerung angetreten ist, steht heute für ein System, das sich selbst auffrisst. Selenskyjs Legitimation basierte darauf, das alte oligarchische und postsowjetische Netzwerk zu entmachten. Fünf Jahre später ist es verstärkt zurück.
Selenskyj steht vor einer historischen Verantwortung. Sollte es seiner Regierung nicht gelingen, für Aufklärung zu sorgen, Transparenz zu schaffen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, könnte er das Vertrauen verlieren, das den Westen bisher an seiner Seite gehalten hat. Ein Staatswesen, das funktioniert und für das die Menschen die nötige Verantwortung übernehmen, wäre die stärkste Waffe gegen Putins Russland und der einzige Ausweg für die Ukraine, um dem Sumpf der sich selbst vernichtenden Korruption zu entkommen. Man muss sich nur einmal vorstellen, welchen Einfluss die Korruptionsgeschichten rund um Selenskyj und Jermak auf die ukrainischen Soldaten haben, die wochenlang bei Wind und Wetter in ihren Stellungen im Donbass ausharren.
Auf jeden Fall müssen auch Berlin und Brüssel handeln. Keine weiteren finanziellen Hilfen ohne transparente und überprüfbare Rechenschaftspflicht. Keine Ausflüchte mehr. Keine blanko Schecks für eine Regierung, die scheint, ihre Energie mehr für die eigenen Machterhaltes als für Reformen aufzuwenden. Die Solidarität der Europäer sollte den Menschen in der Ukraine zugutekommen und nicht denjenigen, die sie ausbeuten.
