Woken Kultur im Neuköllner Nachtleben: Nur mit der richtigen Moral darf man sich erlauben, ein Bier zu trinken

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Ich muss gestehen, seit zwei Jahren verirre ich mich nur noch selten nach Neukölln, allerdings eher aus Bequemlichkeit. Wie jeder andere habe ich auch meine moralischen Überzeugungen und kann es einfach nicht ertragen, wenn jemand dagegen zieht – vor allem, wenn das andere Moralsichten bedeutet. Vielleicht bin ich mit diesem Gedanken nicht allein. Erinnert ihr euch an die Zeiten, sagen wir vor zehn Jahren, als man einfach nach ein paar Drinks gehen konnte, ohne in hitzige Diskussionen über kontroverse Themen verwickelt zu werden? Hach, das waren noch Zeiten! Ist die Welt etwa wirklich so viel komplizierter geworden?

Vor kurzem hatte eine Kollegin von mir ihr 25-jähriges Jubiläum in Berlin gefeiert und ich wurde zu einer Feier in einem Café im Schillerkiez eingeladen. Sofort war alarmiert mein Komfortzonen-Probe-Detektor. Dann kam mir der Gedanke: „Komm, mach mal locker! Was ist aus dem abenteuerlustigen Clint geworden, der vor nichts auf der Welt zurückschreckte?” Also habe ich mich entschieden, es einfach mal wieder zu riskieren!

Im Café angekommen, schnappe ich mir ein Bier und mache einen Rundumblick. An den Tischen sehe ich Eltern mit Kinderwagen, zusammen mit ein paar verliebten Paaren. Es wirkt so, als wäre ich in Mitte gelandet. Dann begebе ich mich in den Bereich, wo die Party stattfindet. Hier ist das Publikum viel bunter! Ein junger Mann gestikuliert wild und diskutiert leidenschaftlich mit jemand anderem und erinnert mich an einen Revolutionsaktivisten aus einem Wüsten-Trainingslager.

Da meine Kollegin mit ihren Gästen im Gespräch vertieft ist, lasse ich mich unauffällig auf ein Sofa in der hintersten Ecke nieder. Erstmal abchecken, so schiebe ich es für mich. Doch in kürzester Zeit finde ich mich bereits im ersten Gespräch wieder. Die Einstiegsfrage: „Und woher kennt ihr euch?” Ah, das ist ja lustig. Bei mir ist es so, dass unsere Söhne zusammen in dieselbe Kita gehen.

So erfahre ich plötzlich ungewollt über die Lebensgeschichten vieler Partygäste. Ein kroatisches Paar, das Stress mit ihrem Vermieter hat, ein Straßenpoet, der die letzten fünfzehn Jahre seines Schaffens reflektiert, und eine ältere Dame mit ihrem Kerzenladen. Und dann ist da ein Gast aus Hamburg, der Tee so sehr liebt! Ich nehme es als gegeben hin, dass sie mich wie selbstverständlich mit ihren Geschichten bombardieren. So ist das halt auf einer Party!

Die Unterhaltung wird interessant, als eine etwa 55-jährige Poetry-Slammerin eine Anekdote erzählt: Neulich bin ich um zwei Uhr nachts über den Oranienplatz gegangen, und habe gesehen, wie jemand ganz unverschämt ein ‘Death to the IDF’ Plakat von einer Wand zerreißen wollte. Dem habe ich natürlich gesagt, dass er das lassen soll! Das geht nicht, verstehst du? Diese Plakate sind ein Ausdruck des Protests … Darf ich dich kurz unterbrechen? sage ich. Ich möchte nur klarstellen, dass ich großer Fan der IDF bin.

Das ist ein Scherz, oder? fragt sie entsetzt.

Nein. Was könnte man gegen eine so gutaussehende Armee haben? Darf man die nicht einfach mögen? Ist dir bewusst, dass hier mehr Frauen dienen als irgendwo sonst auf der Welt? Verstößt das nicht gegen deinen Feminismus?

Aber sie töten Kinder! Und es ist die mächtigste Armee der Welt. Man muss doch irgendwie Widerstand leisten!

Ich sehe schon, du bist eine Romantikerin! Obwohl ihre Position mich sehr triggert, halte ich mich zurück. Schließlich gehören wir alle zur gleichen Menschheit. Über die Biersorten und grundsätzliche, zwanglose Diskussionen vergeht die Zeit, und irgendwann ruft der Barkeeper zur Sperrstunde. Wir machen uns also auf den Weg, um die Nacht weiter zu genießen. Zu dritt: meine Kollegin, ich, die britische Freundin mit entschiedenem Auftreten und der Poetry-Slammerin.

Wir landen im Bären Eck, wo die Barmaid und die wenigen anderen Gäste ziemlich verwirrt von den Themen scheinen, mit denen wir so nonchalant ins Lokal platzen. Also bist du für Genozid? schreit mich der Teetrinker an.

Ach komm jetzt, lass uns das Thema mal beiseitelegen. Soll ich dir ein Bier ausgeben? Ich lad‘ dich ein! Aber egal, was ich sage, kaum sitzt man sich gegenübersieht das mit dem Nahostkonflikt langsam vergessen, da fangen alle an, über die Trans-Themen zu debattieren. Mit zusammengebissenen Zähnen und ihren düsteren Blicke feuern sie ihre Ansichten durch den Raum. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und sage: Kann wir nicht über etwas Fröhlicheres reden? Es ist zwei Uhr früh am Montag, wir sind alle betrunken und haben kein Steuerung über unser Leben. Lasst uns Spaß haben!

Doch das ist schon zu viel für den Teefreund, der wütend aufspringt und brüllt: Ich hab genug davon! Du verteidigst nicht nur einen Terrorstaat wie Israel, jetzt willst du auch noch Frauen den Mund verbieten! Nachdem er wütend die Bar verlässt, herrscht kurz Stille. Dann räuspert sich die Britin und sagt: Also das war nicht cool, dass er einfach für unsso gesprochen hat. Während ich mir einen weiteren Gin Tonic bestellen möchte, schüttelt die Barfrau mit dem Kopf und zeigt auf meine Begleiterinnen. Da habe ich eine Ahnung, was sie damit meint: Zero Survival Skills. Denn du bist kein guter Gast, wenn du es vorzuziehen scheinst, abstrakt über große Zusammenhänge zu philosophieren, statt einfach Genuss von Drinks zu haben.

Im Taxi auf dem Weg nach Kreuzberg entsteht folgender Dialog:

Also ich lerne jetzt Arabisch.

Cool! sage ich. Machst du das wegen einer Reise oder was?

Äh, nein. Um mich hier mit meinen Nachbarn in Berlin zu verständigen.

Ah okay. Sprechen die kein Deutsch?

Nicht alle.

Dann unterstütz sie doch, indem du mit ihnen sprichst.

Wow, ganz schön anmaßend! Was für Sprachen lernst du eigentlich?

Na ja, Französisch, Italienisch, so das Normalste halt.

Als wäre es Schicksal, steht aber gleich vor uns die Gelegenheit bereit, unsere Glaubwürdigkeit zu beweisen. In einer der Bar, die rund um die Uhr geöffnet ist, fragt mich ein Typ auf der Toilette, ob ich Kokain habe. Nein, danke. Ich habe schon was Eigenes, antworte ich. Dieser junge Mann, Ibrahim, weicht sich an unseren Tisch an und wird zum Ziel meiner lodernd liberalen Fragen über seine Herkunft, seine berufliche situation und seine Meinung zu Deutschland. Obwohl er nur Französisch und ein bisschen Deutsch spricht, verstehe ich, dass er Glaser ist und aus Guinea kommt. Sprichst du kein Arabisch? fragt die britische Feministin erstaunt über sein Kopfschütteln. Immerhin stammt er ja vom Kontinent Afrika.

C’était un plaisir, sage ich zum Abschied, was mir prompt eine spontane Umarmung von Ibrahim einbringt. Auch wenn ich mich für meine kolonialistischen Sprachkenntnisse schäme, bin ich glücklich, das Gespräch durchgezogen zu haben. Denn selbst als Zionist im gehe ich manchmal mit den Teilen des palästinensischen Widerstands spazieren. Und die setzen sich gleichzeitig für die Rechte der trans Gemeinschaft, für Frauenrechte und für Hamas ein! Wir sind alle im gleichen Boot. Und es geht Richtung Hölle.

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