Eine erfreuliche Nachricht aus Russland
Das Kreml-Regime gibt sich viele Mühe, alles zu überwachen. Doch selbst Wladimir Putin hat seine Grenzen, sagt der Autor Wladimir Kaminer.
Soeben haben wir eine fantastische Nachricht erhalten: Die 18-jährige Straßenmusikerin Diana, alias Naoko, und ihr Freund Alexander, Gitarrist der Band Stopptime, sind nach einem Monat Untersuchungshaft plötzlich aus der Polizeizelle in Sankt Petersburg entlassen worden. Sie wurden von hilfsbereiten Menschen als „in Sicherheit“ beschrieben, was bedeutet, dass sie das Land verlassen haben.
Die beiden Künstler waren festgenommen worden, weil sie in der Öffentlichkeit Songs von bereits geflüchteten Musikern gesungen hatten, die der Regierung nicht genehm waren. Überraschenderweise konnte der Staat nicht wie gewohnt ein Video mit ihren Entschuldigungen oder patriotischen Bekennnissen zum Krieg in der Ukraine veröffentlichen. Doch ich fürchte, dass ein Ziel des Staates erreicht wurde: den Jugendlichen Angst einzujagen. Gibt es da draußen noch jemanden, der sich traut, öffentlich zu singen?
Wer ist Wladimir Kaminer?
Wladimir Kaminer ist ein Schriftsteller und Kolumnist, geboren 1967 in Moskau und langjähriger Resident in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken zählt „Russendisko„. Sein neuestes Buch, „Das geheime Leben der Deutschen„, erschien am 27. August 2025.
In dieser Jahreszeit ist es ohnehin eine Herausforderung, draußen Musik zu machen – es ist zu kalt und die Finger frieren schnell ein. Und niemand hat eine Ahnung, was man in diesem neuen Russland noch singen darf; man hat lediglich eine Liste, was absolut verboten ist. Diese Verbotserklärungen werden zunehmend länger und rasch veröffentlicht, jeden Tag wie am Fließband. Sie umfassen verbotene Bücher, Songs, Filme und jene Personen, die man nicht erwähnen oder zitieren darf.
Im Gegensatz dazu gibt es keine Liste mit den erlaubten Künstlern und Werken. Ist alles, was einem einfällt, bereits verboten, oder gibt es noch erlaubte Lieder? Statistische Daten verschwinden im Nebel; viele Informationen bleiben geheim, beispielsweise die Zahl der gefallen und verwundeten Soldaten im bereits fast vierjährigen Invasionskrieg, der Staat hüllt sich darüber in Schweigen. Einige Zahlen fliegen dennoch durch die Luft.
Militärische Abwesenheit: Was passiert mit den Soldaten?
Interne Militärberichte zeigen, dass die unerlaubten Abwesenheiten von Truppen explodiert sind. Bedeutet das, dass Kommandeure versuchen, die Statistiken sauberzuhalten und Todesfälle als „unerlaubte Entfernung“ melden? Oder will der Staat Kosten sparen und keine Zahlungen an die Familien der Soldaten leisten? Für jeden gefallenen Soldaten ist schließlich eine nennenswerte Entschädigung erforderlich. Oder handelt es sich действительно um Deserteure? Wo sind sie geblieben? Die Zahlen schwanken seit Jahresanfang im fünfstelligen Bereich. Und falls sie sich wirklich von ihren Einheiten entfernt haben: Führen sie ihre Waffen bei sich?
Plötzlich wurde in den Nachrichten der Kirche über einen Anstieg von Selbstmorden unter orthodoxen Priestern berichtet. Ich frage mich: Was ist im Christentum die größere Sünde – das Leben zu verlieren oder den Krieg zu verherrlichen? Fast ein Fünftel aller Buchhandlungen in Russland hat dieses Jahr die Pforten geschlossen. Das mag allgemein passieren, da Buchhandlungen weltweit schließen – jedoch trifft es besonders stark jene, die lediglich Propagandaliteratur anbieten.
Weniger als ein Drittel der Bevölkerung zeigt „Dankbarkeit“ für die Veteranen dieses Krieges, zwei Drittel empfinden „Angst“. Der Versuch der Staatsmedien, Veteranen glorifizieren und als Elite des Landes darzustellen, scheint gescheitert. Während das Regime das Bestreben hat, diesen Konflikt als eine Art Dritten Weltkrieg darzustellen – eine Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs – bleibt die Realität viel komplexer.
Die Soldaten werden als Helden inszeniert. Ob das aber wirklich jemand glaubt? Die Armut ist allgegenwärtig: Menschen leben in heruntergekommenen Wohnungen und klemmen von Monat zu Monat am Existenzminimum. Es gibt Menschen, die kleine Kredite aufgenommen und ihr Geld verschwendet haben, solche, die sich nie einen Urlaub leisten konnten.
Statistik schweigt
Wann die kriegsbedingte Rekrutierung begann, haben einige Haushalte ihre Männer, Söhne oder Väter gegen Geld an den Staat verkauft, während die andere Hälfte sich entschloss, dies nicht zu tun. Die ersten konnten finanziell davon profitieren; selbst wenn sie ihre Männer verloren haben, konnten sie zumindest die Wohnsituation verbessern, ein Auto zulegen oder Schulden abarbeiten. Die zweite Hälfte blieb ohne Geld und muss nun diese kriegsgewinnenden Menschen als neue Elite des Landes anerkennen. Aber das können sie so nicht akzeptieren. Was kann die Musik auf der Straße sagen? Darüber berichtet die Statistik nicht.
Im Winter sind Straßenmusiker rar gesät. Eine Freundin berichtete aus Moskau, dass vor ihrem Block ein Kind mit einer Gitarre und Brille aufgetaucht ist, das schrecklich gesungen hat: „Ihr werdet uns nicht fangen/Wir laufen weg/Weit entfernt/Von allem/Alles wird leicht sein/Du wirst sehen /Der Himmel wird über uns fallen/Ihr werdet uns nicht fangen.“
Dieses Lied stammt von der Band t.A.T.u. von 2001 – es ist älter als das Kind selbst. Damals tanzten zwei Mädchen, die vorgeben wollten, lesbisch zu sein. Sie küssten sich auf der Bühne, und niemand wollte sie daran hindern. Die Luft war erfüllt von Freiheit, und es schien, als sei dies der normale Geruch des Lebens. t.A.T.u., kommt es mir vor, war das erst gestern. Passen Sie auf sich auf, junger Mann!
